Literatur und Theater

Literatur



Der Meister hat ein Heimspiel – 7.10.2004

Martin Walser füllte das Kultur- und Kongreßzentrum bis auf den letzten Platz. Als abschließender Höhepunkt der Heimattage in Weingarten war seine Lesung mit dem Thema „Heimatkunde – Heimatlob“ ganz auf die Region ausgerichtet, die in der Ferne gerade eröffnete Buchmesse hatte auch thematisch keinen Einfluss.
Indessen bot Walser unter den Bühnenspots und hinter dem Stehpult des KuKo, hinterfangen von zwei Fahnen mit Logo und Barockengel eher das Bild eines Referenten. Der Sponsor Landesbank Baden-Württemberg fand nur diskrete mündliche Erwähnung in der kurzen Begrüßung von Oberbürgermeister Gerd Gerber.
Das silberweiße Haar leuchtet unter den Strahlern, wie ein Altan verschatten die Brauen das Gesicht. Eineinviertel Stunden lang liest Walser fast ohne abzusetzen aus drei Texten: dem 2004 entstandenen „Aufgeschobene Zeit“, einem Text über den Bodensee von 1984 zum Jubiläum Wasserburgs und dem 1978 mit Aquarellen von André Ficus veröffentlichen „Heimatlob“.
Die ausgebleichte Stimme, die nur wenig Schwingung besitzt, jedes Wort emphatisch betonend, so dass das nächste kaum gesteigert werden kann, die Hände bisweilen zu beiden Seiten ausstreckend und weit geöffnet oder den Zeigefinger hebend, wird der Zuhörer alsbald verleitet, in Walser einen Rhetor der besonderen Art zu erkennen: zwischen Speakers’s Corner und Außenkanzel bewegt sich dieser Eindruck. Der Lesegestus hat auch etwas Liturgisches, die Diktion ist einer Predigt nicht unähnlich.
Walsers ‚Heimat’ ist ein sich selbst genügender Mikrokosmos. Es ist die Erinnerung des Kindes an das von Dingen der Vergangenheit wie Großvaters „Schnauz“ magisch belebte Zuhause. Es ist die Erinnerung des Jungen an die Bodenseelandschaft mit ihren „immer rund verlaufenden Hügeln“. Es ist die Prägung durch die katastrophenlos erlebte Geschichte – auch diese geht über die Region nicht hinaus – und die Menschentypen.
In schnell überlesenen Seiteneinschüben bekommen Politiker, Anwälte und Journalisten, das Hochdeutsche und die Kollektivschuld ihr angeranzeltes Fett weg, „tragische Clowns“ nennt er in dieser Reihenfolge vor 20 Jahren Chaplin, Hitler und Churchill. Dies nimmt ihm in Weingarten jedoch wohl keiner krumm, das wird wohl eher als Humor gesehen, nebenher konsumiert wie im satirischen Versuch „Heilige Brocken“ die Legende vom Heiligen ‚Sowieso’.
Auch in diesen Texten tobt sich der Furor der Walserschen Komposita – Erinnerungsmehrwert, Kirchenjahrszerknirschung, Zärtlichkeitsangebot – reichlich aus. Er legt jedoch meist um die Erscheinungen eine assoziative Schlinge und dient so einer freundlichen Wiedererkennung. Es gibt auch bestechende Gedanken in diesen Texten, die sich viel weniger mit der konkreten Heimat abgeben als mit der Gemütsbeziehung zu ihr. Wie zum Beispiel diesen, dass der fremden Landschaft „die Vergangenheit in mir“ fehle, dort die persönliche Erinnerung unmöglich sei. Oder so etwas wie „Was man vermisst, das spürt man“. Oder manch schöne Beschreibung wie die der Biertrinker in der Bahnhofswirtschaft, in der sich die durstigen Seelen treffen und wie das Bier hinein geschüttet wird „in das von der Backofenglut ausgedörrte Bäckerinnere“.
Die Erwartungen waren befriedigt, zum Fragen stellen hatte jedoch keiner Lust. Dafür sei auch das Auditorium zu groß, murmelte jemand in der Reihe dahinter. Also ging es nach starkem Applaus schnurstracks zum Signieren.











Theater



Happyend unter himmelblauem Satin – 8.12.2001

Vier Vorhänge vor erstaunlicherweise zwar nicht ausverkauftem Haus – aber der lange Beifall galt nicht nur einer gelungenen Aufführung. Er feierte zwei Charakterdarsteller – Günter Lamprecht und Claudia Amm – und galt nicht zuletzt dem Schauspiel „Josef und Maria“ des österreichischen Autors Peter Turrini.
Im Jahr 1991 geschrieben, erhielt es 1998 eine Neufassung, die ein Jahr später in Hamburg ihre Deutsche Erstaufführung hatte. Es spielt im Lagerraum eines Warenhauses am Heiligen Abend. Die undankbarste Rolle hat der anfänglich auftretende Abteilungsleiter (Dieter Duhme), der die stereotype Weihnachtsansage – die Uhr darüber zeigt fünf Minuten vor vier – vom Blatt liest, den Gong läuten lässt, Weihnachtsgedudel und Lichterkette abschaltet und nachhause geht. Es wird still.
Nach einer Weile erscheint die Putzfrau Maria Patzak. Schweigend und umständlich zieht sie eine Kittelschürze über den Unterrock, guckt ins Leere, ächzt, murmelt. Diese Minuten zerdehnt Turrini zu expressiven Ewigkeiten. Seine beiden Hauptpersonen sind – wie könnte es anders sein – gescheiterte Existenzen. Maria hat zwar einen Sohn mit Familie, aber doch will sie keiner am Heiligen Abend bei sich sehen. Dem Wachmann Josef waren die Partei und der Sozialismus Familie, aber der Sozialismus ist tot und damit alles, woran er glauben konnte. Tief sitzt der Drill der Parolen, noch tiefer die Erinnerung an die Zeit in der Psychiatrie – weil er in Plötzensee als Todeskandidat den Verrückten spielte und kastriert wurde.
Wollte man zitieren aus dem Text, so wären die meisten Sentenzen von Maria, der lebenserfahrenen, desillusionierten und doch nicht verbitterten, von Claudia Amm noch sinnenfroh charakterisierten Frau. Wie sie sich befreit von der Trübsal – mit einem Schluck aus der Flasche und ein paar Tangoschritten -, wie sie zunächst Josef nicht zuhört, wie sie sich wandelt zur Gebenden. Der Figur des Josef hingegen verleihen die kleinen Gesten des Günter Lamprecht Erinnerung – die ungelenke Menschenfreundlichkeit, die schüchterne Neugier, die rudimentäre Höflichkeit dieser schrulligen verkrachten Existenz, des „wirklich Letzten von all den Genossen“, der über dem falschen Pathos einer sozialistischen Kitschprosa echte Tränen der Rührung vergießt.
Marias Geschenke – für ihre Familie bestimmt – verwandeln ihn. Da wird er ganz Kind, schaut und nuschelt unter sich und man kann den Blick nicht von ihm wenden, weil er den Ausbruch vorausahnen lässt, das Weinen des nie Kind gewesenen alten Mannes, des entmannten großen Kindes, das sich ans Fußende des Sonderangebot-Himmelbettes legt und den Daumen in den Mund steckt. Und Maria wird ganz zur Mutter, die sie sonst nicht mehr sein darf, beruhigt, streichelt und wiegt. Und so finden sie doch noch zueinander – in dicken Klamotten nun im Bett liegend, fragt Maria den Josef zum Schluss kaum hörbar unter dem himmelblauen Streifensatin: „Josef, bist Du eigentlich kitzelig?“ Sagt der Josef: „Woher soll ich das wissen? Ich hab’ mich noch nie selbst gekitzelt“. Ein Stück zum Lachen, zum Weinen und zum Trösten – gut gegen die Einsamkeit.

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